Farbenklänge
Klangfarben
Zur Malerei von Thomas Ritter
LENA NAUMANN
„Die Musik ist der vollkommenste Typus der Kunst: Sie verrät nie ihr letztes Geheimnis“, schrieb der Dramatiker Oscar Wilde vor mehr als hundert Jahren. Musik bewegt das Herz und löst tiefe Empfindungen aus. Wer die Musik liebt, sei es die von Ludwig van Beethoven oder die von Louis Armstrong, wird im letzten niemals sagen können, warum er sie liebt. Musik lässt sich in ihren tiefsten Tiefen nicht mit dem Kopf erfassen oder mit dem Verstand ergründen. Sie rührt an etwas Numinoses und gerade das macht ihre Faszination aus über Zeiten und Kulturen hinweg.
In der bildenden Kunst sind die Dinge etwas anders gelagert. Kunstkenner – nomen est omen – werfen Betrachtern ohne kunsthistorische Vorbildung oftmals vor, keinen Kunstverstand zu haben. Wer von Kunst nichts versteht, gilt schnell als Banause. Hier wird schon klar, dass der Zugang zur Kunst ein kenntnisreicher sein sollte. Für die Konzeptkunst gilt das allemal: ohne ein intellektuelles Verständnis für die hinter ihren Werken stehende Idee bleibt dem Betrachter der Zugang gänzlich verschlossen. Und doch: Gute Kunst, große Kunst, welche die Zeiten überdauert, verrät ebenfalls nie ihr letztes Geheimnis. Sie ist auch mit noch so viel Kunstverstand nicht zu erfassen und daher nicht weniger magisch und unergründlich wie die Meisterwerke der Musik. Ihre Faszination ist ebenso wenig erschöpfend zu erklären wie eine Mozartsinfonie. Am bekanntesten sind wohl das geheimnisvolle Lächeln der Mona Lisa oder die Arbeiten von Romantikern wie Caspar David Friedrich.
Im Bereich der abstrakten Malerei ist die Vermittlung des Numinosen durch den Künstler allerdings schwieriger. Abstrakte Kunst ist oftmals ein raffiniertes Spiel mit der Gegenstandslosigkeit; im besten Falle und stilgeschichtlich gesehen geschieht das auf eine neue und immer raffiniertere Weise. Geheimnisvoll ist ein abstraktes Werk deshalb aber noch lange nicht. Um einem ganz oder annähernd gegenstandslos gemalten Bild eine magische Aura zu verleihen, braucht es in der Seele des Künstlers Räume, die über lange Zeit und mit großer Achtsamkeit erforscht werden. Ein mystisch wirkendes abstraktes Bild lässt sich nicht „machen“. Es entwickelt sich über Wochen und Monate aus der Psyche eines Künstlers, der es in der Stille fein beobachtet, seine Möglichkeiten auslotet und diese nach und nach mit großer Behutsamkeit auf die Leinwand bringt. Diesen Weg der Bildfindung geht seit drei Jahrzehnten der abstrakte Maler Thomas Ritter.
Einen Raum schaffen, in dem sich leben lässt
Thomas Ritter wurde 1955 in Höxter geboren. Die Eltern zogen bald darauf nach Hannover, wo der Künstler seine Kindheit und Jugend verbrachte. Heute lebt er zusammen mit seiner Frau, der Künstlerin Susann Karsthof, und den drei Kindern, auf einem Bauernhof auf dem Land bei Hannover. Mitte der 1970er Jahre absolvierte Thomas Ritter zunächst eine Lehrerausbildung an der dortigen Pädagogischen Hochschule und arbeitete anschließend einige Jahre als Sozialpädagoge im Bereich der Integration von ausländischen Kindern und Jugendlichen. Da Ritter seit seiner Kindheit ein begeisterter Maler und Zeichner war, entschloss er sich mit Anfang dreißig zu einem Studium der Freien Kunst an der FH Hannover als Schüler von Professor Peter Redeker, das er 1990 mit einem Diplom abschloss. Von 1988 bis 1994 hatte Thomas Ritter einen Lehrauftrag für Figur- und Aktzeichnen an der Universität Hannover inne, da er – auch wenn man es hinter seinem heutigen abstrakten Werk kaum vermutet – ein exzellenter Zeichner ist und damit den Satz von Ingres bestätigt, das Zeichnen sei die Grundlage jeder guten Kunst.
Im malerischen Werk von Thomas Ritter vereinigen sich zwei Lebenslinien: die künstlerische und die sozialpädagogische. Er ist kein Mensch, der anklagt oder polarisiert und würde auch die Kunst niemals zu diesem Zweck instrumentalisieren. Sein Ansatz im Leben und im Arbeiten ist eher gesellschaftsaffirmativer Natur: Er schafft ästhetische und soziale Räume, in denen Menschen leben und sich als lebendig erfahren können. Das Wesen von Thomas Ritter ist integrierend, nicht ausgrenzend. Er wird angetrieben von der Vision einer lebenswerten Umgebung, die Gefühle wie Zufriedenheit und Zugehörigkeit vermittelt. Das zeigt sich an vielem, z. B. daran, dass er gemeinsam mit seiner Frau zusätzlich zu den drei mittlerweile erwachsenen Kindern zwei elternlosen afghanischen Flüchtlingskindern ein neues Zuhause gibt, aber auch und vor allem in der Art, wie seine Bilder entstehen und welche Wirkung sie im Prozess des Betrachtens entfalten.
In Farben umgesetzte Musik
Die Malerei von Thomas Ritter ist vor allem eins: schön. Nicht in einem kitschigen oder gefälligen Sinn. Ritters Bilder sind so unglaublich anziehend, weil sie etwas tief Geheimnisvolles ausstrahlen. In ihnen begegnen den Farben auf eine unergründliche Weise die Elemente Klang, Raum und Zeit.
Thomas Ritter hört beim Malen grundsätzlich Musik. Mit seinen Kopfhörern schottet er sich von allen anderen Umgebungsgeräuschen ab, lässt sich ganz auf den Klang ein und wird als Künstler dabei zu einem Medium, das Klang in Farben und Formen übersetzt. Die Mehrstimmigkeit eines Musikstückes, die Geigen, Flöten und Pauken, finden sich in den verschiedenen Ebenen des Bildes wieder, ja man kann fast sagen, der Künstler übersetzt die Schallwellen der Musik in die Lichtwellen der Farben. Seine Bilder sind zu Farben amalgamierte Klänge; in ihnen begegnet die akustische Welt der optischen. So wie Thomas Ritter auch im sozialen Bereich das Verbindende mehr liebt als das Trennende, liebt er im künstlerischen die Verbindung der Dimension des Hörens mit der Dimension des Sehens – und mit der Dimension des Fühlens. Das Auf und Ab der Musik, die beim Malen und Hören entstehenden Gefühle von Melancholie, Enttäuschung, Entspannung, Freude und Glück nimmt der Künstler sensibel wahr und macht sie zu Mitgestaltern am künstlerischen Werk. Thomas Ritter wurde zu Beginn seiner künstlerischen Arbeit noch stark vom Informel, von Emil Schumacher, Fred Thieler, Karl Otto Götz und den amerikanischen Expressionisten beeinflusst, merkte aber schon bald, dass ihm das alleinige Ausloten der malerischen Mittel nicht reichte. In der Abstraktion die Figuration zuzulassen, seien es Landschaften, Menschen, Bäume oder Boote, besitzt für ihn bis heute einen großen Reiz.
Die abstrakten Arbeiten von Thomas Ritter entwickeln sich über Wochen und Monate. Manchmal steht am Anfang die Idee eines Gegenstandes, von dem er sich im weiteren Malprozess mehr und mehr entfernt. Manchmal läuft es umgekehrt: aus einem gegenstandslosen Farbenarrangement taucht eine Figur auf, an welcher der Maler dann weiterarbeitet. Thomas Ritter liebt das Verschleiern; er zieht es vor, weniger das Detail als das große Ganze zu sehen. Während seines Studiums hat er sich mit den Farbenlehren von Goethe, Walter Oscar Grob, Paul Renner und Johannes Itten beschäftigt, hat sie verinnerlicht und zu seiner eigenen, stark von erdigen Tönen geprägten Palette weiterentwickelt. Heute geschieht seine Farbwahl intuitiv und steht im Dienst einer Auseinandersetzung, die im wörtlichen Sinne ganz unten im Bild beginnt und sich allmählich bis an die Oberfläche fortsetzt. Das Geheimnis eines Bildes muss bis nach oben durchdringen, andernfalls wäre es „totgemalt“. Thomas Ritter beherrscht diesen Prozess instinktiv – übrigens ein Grund, warum er an seinen Bildern über Wochen und Monate malt. Das erfordert Geduld und die Fähigkeit, über lange Zeit mit der Spannung zu leben, dass ein Bild seine expressiven Möglichkeiten immer und immer noch nicht ganz ausgeschöpft hat. Dieser Prozess erinnert an einen Satz der Schriftstellerin Christa Wolf in ihrem Roman Nachdenken über Christa T.: „Hinter sich lassen, was man zu gut kennt, was keine Herausforderung mehr darstellt. Neugierig bleiben auf die anderen Erfahrungen, letzten Endes auf sich selbst in den neuen Umständen. Die Bewegung mehr lieben als das Ziel.“ Die Prozesshaftigkeit seines Vorgehens beim Malen ist Thomas Ritters Art, die Dimension der Zeit in seinen Bildern zu verankern. Seine Farbflächen werden deshalb nie monochrom, sondern bleiben schwingend und changierend. Hier liegt ein Grund, warum Sammler seiner Werke immer wieder sagen, dass sie mit seiner Malerei so gut leben können und auch mit Bildern, die sie bereits vor vielen Jahren erworben haben, nach wie vor und immer noch in einem inneren Dialog stehen. Das malerische Werk von Thomas Ritter erschöpft sich nicht. Es bleibt lebendig, offen, als Werk in einer nicht endenden Spannung und gleichzeitig auf den Betrachter tief entspannend, auf zarte Weise lyrisch-poetisch und dabei behutsam entschleunigend.
Die Malerei von Thomas Ritter hat seit vielen Jahren zahlreiche Sammler und Liebhaber. Das ist vor allem der beharrlichen Arbeit seines renommierten Pilotgaleristen Hargen Depelmann in Langenhagen bei Hannover zu verdanken. Dieser entdeckte das Talent des Künstlers bereits während des Studiums und hat ihn seither durch das Herstellen zahlreicher Kontakte zu Sammlern unermüdlich gefördert. Dank seines Engagements sind Ritters Arbeiten heute auf nahezu allen namhaften Kunstmessen zu sehen.
Antoine de Saint-Exupéry hat einmal gesagt, das Wesentliche sei für die Augen unsichtbar. Wenn es Werke der bildenden Kunst gibt, die das unsichtbare Wesentliche auf die maximal mögliche Weise dennoch sichtbar machen, dann sind es die Arbeiten von Thomas Ritter. Er ist der Maler der klangvollen Stille.
Lena Naumann, 2017